BESCHNEIDUNG IM JUDENTUM

Warum beschneiden Juden ihre Kinder?

Herausgeber: Zentralrat der Juden in Deutschland K.d.ö.R. V.i.S.d.P.: Stephan J. Kramer, Generalsekretär

Die Grundlage für Juden, ihre Söhne zu beschneiden, liegt in der Bibel (Gen. 17, 10 – 14). So heißt es: „Dies ist mein Bund, den ihr hüten sollt zwischen mir und euch und deinem Samen nach dir: beschnitten soll euch jeder Männliche werden“ (Gen. 17, 10). „Und zwar acht Tage alt soll euch jedes Männliche beschnitten werden“ (Gen. 17, 12).

Die Beschneidung jüdischer neugeborener Jungen gehört zum Wesen des Judentums, markiert den Eintritt in die jüdische Gemeinschaft und symbolisiert den Bund zwischen Gott und Abraham bzw. zwischen Gott und den Juden. Das Gebot ist für Juden bindend. Die Beschneidung wird auch von säkularen Juden durchgeführt und verbindet Juden aller Strömungen, von orthodox bis reform, miteinander. Sie ist nicht nur Brauchtum, sondern zentraler Bestandteil jüdischer Identität. Sie ist von essentieller Bedeutung und konstitutiv für das Judesein. Die Beschneidung gilt als eines der wichtigsten Gebote im Judentum und hebt selbst die Gebote der höchsten jüdischen Feiertage Schabbat und Jom Kippur (Versöhnungstag) aus, an denen bestimmte Tätigkeiten nicht ausgeführt werden dürfen.

Auch während des Nationalsozialismus, als die Beschneidung als Hinweis zur Zugehörigkeit zum Judentum das Todesurteil bedeuten konnte, wurden jüdische Jungen beschnitten; sie wurde sogar in NS-Arbeitslagern durchgeführt.

Die Abschaffung der Beschneidung ist im Judentum unter keinen Umständen denkbar.

Was passiert bei der Beschneidung eigentlich?

Die Beschneidung ist einer der am häufigsten durchgeführten chirurgischen Eingriffe weltweit. Dabei wird die Vorhaut von der Eichel mittels eines Skalpells entfernt. Anschließend wird das austretende Blut aus der Wunde entfernt.

Wird der Säugling vor der Beschneidung betäubt?

Es spricht nichts gegen eine (lokale) Betäubung des Kindes. Eine Narkose des Säuglings wird in der Regel nicht durchgeführt und nicht empfohlen, da die Narkose dem kindlichen Körper Schaden zufügen könnte und weniger leicht für den Säugling zu bewältigen ist.

Führt die Beschneidung zu gesundheitlichen Nachteilen? Hat die Beschneidung auch Vorteile?

Nein, die Beschneidung führt nicht zu gesundheitlichen Nachteilen – ganz im Gegenteil! Die Entfernung der Vorhaut führt dazu, dass sich Keime weniger gut ansiedeln können. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das Joint United Nations Programme on HIV/AIDS (UNAIDS) kamen bereits im Jahre 2007 zu dem Schluss, dass die männliche Zirkumzision das Risiko, sich mit AIDS zu infizieren, zweifellos erheblich verringert. Mehrere Studien haben bewiesen, dass die männliche Beschneidung das Übertragungsrisiko von AIDS von Frau zu Mann um 60 bis 70 % reduziert (vgl. WHO, Manual for early infant male circumcision under local anaesthesia, 2010, S. 6). Die Weltgesundheitsorganisation hat daher im Jahre 2007 die Beschneidung als vorbeugende Maßnahme gegen die HIV-Ansteckung grundsätzlich empfohlen. Auch das Risiko, sich mit anderen sexuell übertragbaren Krankheiten wie Genitalherpes (HSV) und den Humanen Papillomaviren, die wiederum Gebärmutterhalskrebs bei Frauen auslösen können,zu infizieren, wird durch die Beschneidung verringert. Zudem wird die Gefahr, an Harnwegsinfektionen, Phimose und Peniskrebs sowie an Entzündungen der Vorhaut und der Eichel zu erkranken, verringert. Auch konnte nachgewiesen werden, dass die Beschneidung keine negative Auswirkung auf die sexuelle Funktionsfähigkeit eines Mannes oder die Befriedigung der Sexualpartner hat (vgl. WHO, Manual for early infant male circumcision under local anaesthesia, 2010, S. 6).

Wie verbreitet ist die männliche Beschneidung?

Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahre 2007 sind rund 30% der Männer weltweit beschnitten. Das Phänomen ist in den USA sowie im Nahen und Fernen Osten verbreitet. In diesem Zusammenhang fällt hin und wieder die Bemerkung, die gegenwärtige Debatte um die Beschneidung sei „eurozentrisch“ (Hans Michael Heinig).

Ist die männliche Beschneidung mit der weiblichen Genitalbeschneidung vergleichbar?

Nein. Der körperliche Eingriff bei männlichen Säuglingen ist relativ geringfügig. Die Beschneidung von Frauen hingegen ist ein Instrument der Unterdrückung, die mit massiven körperlichen und seelischen Schäden und der Einschränkung sexueller Empfindsamkeit verbunden ist. Es sollte nicht übersehen werden, dass die Beschneidung einer Frau nicht auf religiösen Gründen basiert, sondern auf kulturellen Traditionen und Mythen.

Ist die Beschneidung Genitalverstümmelung?

Nein. Das Genital ist weiterhin voll funktionsfähig und führt zu keinerlei Beeinträchtigung. Zudem gibt es laut Heier Bielefeldt, Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit des UN-Menschenrechtsrats „keine einzige Entscheidung des UNO-Kinderrechtsausschusses, die besagt, die Praxis als solche ist gegen die Kinderrechtskonvention, die Praxis als solche wäre dann auch menschenrechtswidrig.“ Auch ist der Eingriff nicht so gravierend, dass das Wort „Verstümmelung“ angebracht wäre. Wäre die männliche Beschneidung Genitalverstümmelung, hätte die Weltgesundheitsorganisation die Beschneidung nicht ausdrücklich empfohlen.

Der Verein „Deutsche Kinderhilfe e.V.“ führt aus, Deutschland habe die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert, deren Artikel 24 laute: „Die Vertragsstaaten treffen alle wirksamen und geeigneten Maßnahmen, um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen“. Was ist da dran?

Zu Recht hebt die UN-Kinderrechtskonvention hervor, dass alle Bräuche, die der Gesundheit eines Kindes schaden, abgeschafft werden. Die Beschneidung jedoch schadet dem Kind in keiner Weise. Im Gegenteil, es verschafft ihm sogar gesundheitlichen Nutzen. Zudem mindert es die Gefahr eines möglichen psychischen Drucks und der Stigmatisierung innerhalb der peer group, falls ein Junge nicht beschnitten wurde.

Warum können Schönheitsoperationen erlaubt sein, die Beschneidung aber nicht?

Bei derartigen Operationen wird häufig eine medizinische Indikation angeführt – nämlich eine psychische. Das Kind könnte gehänselt und im schlimmsten Fall gemobbt werden, so dass psychische Gründe für eine Schönheitsoperation sprächen. Ähnliches kann für die Beschneidung angeführt werden – unbeschnittene Kinder können darunter leiden und in ihrem Umfeld stigmatisiert werden.

Welchen Stellenwert haben Religionsfreiheit (und Selbstbestimmungsrecht der Religion) und das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit? Welche Rolle spielt das Elternrecht?

Artikel 4 Abs. 1 und 2 GG garantieren die Freiheit des religiösen Bekenntnisses und die Gewährleistung der ungestörten Religionsausübung. Ein Beschneidungsverbot verletzt diese Freiheit jedoch. Artikel 6 Abs. 2 GG versichert den Eltern das Recht, ihre Kinder zu pflegen und erziehen. Die Ausübung des Sorgerechts nach § 1626 Abs. 1 BGB beinhaltet auch die Einbindung religiöser Vorstellungen und Befolgung religiöser Gebote bei der Erziehung der Kinder. Die Glaubensfreiheit und –ausübung ist demnach ein Element der elterlichen Sorgerechtsausübung im Sinne des § 1626 Abs. 1 BGB (vgl. Edward Schramm, Ehe und Familie im Strafrecht, Tübingen, 2011, S. 226). Dem gegenüber steht Artikel 2 Abs. 2 GG, wonach jeder Mensch das Recht auf körperliche Unversehrtheit hat. In dieses Recht darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden. Die Religionsfreiheit gegen die Grundrechte des Kindes abzuwägen, ist jedoch schwierig. „Zu deren Verwirklichung ist das Kind immer auf die Entscheidung seiner Eltern angewiesen. Dass den Eltern dieses Recht vorrangig zusteht, ist eine klare Entscheidung unserer Verfassung“, so der Münsteraner Rechtswissenschaftler Bijan Fateh-Moghadam. So ist das Elternrecht auch das Recht, zunächst über die Religion der Kinder zu entscheiden. Der Tübinger Strafrechtswissenschaftler Edward Schramm führt in dem Zusammenhang aus: „Die Ausübung der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 2 GG) im Rahmen der Ausübung der elterlichen Sorge (Art. 6 Abs. 2 GG) wiegt schwerer als das durch den Eingriff tangierte allgemeine Persönlichkeitsrecht des Kindes (Art. 2 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 1 GG) und die körperliche Unversehrtheit des von der Beschneidung betroffenen Knaben. Die Einwilligung in eine religiös motivierte Zirkumzision eines männlichen Kindes oder Minderjährigen stellt keine Gefährdung des Kindeswohls und damit keine Verletzung des Sorgerechts dar, weshalb sie rechtfertigende Wirkung entfaltet, sofern die Beschneidung darüber hinaus lege artis vorgenommen wird und die Beschneidung im Kindesalter ein zentrales Moment der Religionsausübung bildet.“ (Edward Schramm, Ehe und Familie im Strafrecht, Tübingen, 2011, S. 229).

Im gleichen Sinne kritisiert Hans Michael Heinig, Professor für Öffentliches Recht und Staatskirchenrecht, das Urteil des Kölner Landgerichts: Wenn das Gericht annehme, die Beschneidung gehöre nicht zum Kindeswohl, bringe es zum Ausdruck, „die Beheimatung eurer Kinder im Judentum ist nicht im Interesse eures Kindes, sondern eine Straftat“, und das stelle die Grundidee von Religionsfreiheit und Elternrecht auf den Kopf. Kann man die Beschneidung nicht auf den Zeitpunkt verschieben, wenn ein Mensch mündig wird? Nein. Im Judentum ist explizit vorgeschrieben, einen männlichen Säugling am achten Tag nach der Geburt zu beschneiden, es sei denn, gesundheitliche Gründe sprächen dagegen.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO kam zu dem Schluss, dass eine Beschneidung in den ersten beiden Lebensmonaten leichter durchzuführen und mit weniger Schmerz und geringeren Komplikationsraten verbunden ist als bei älteren Jungen oder Männern, da der Penis weniger entwickelt und die Vorhaut dünner ist. Dies begünstigt eine schnelle Heilung; die Wunde muss in der Regel nicht genäht werden. Auch wird die Prozedur nicht durch mögliche Erektionen erschwert, vielmehr verheilt die Wunde, bevor sexuelle Aktivitäten einsetzen. Eine frühzeitige Zirkumzision reduziert auch das Risiko eines Babys in den ersten sechs Lebensmonaten an Harnwegsinfektionen zu erkranken (vgl. WHO, Manual for early infant male circumcision under local anaesthesia, 2010, S. 4 f.) Die Durchführung der Beschneidung vom Erreichen der Religionsmündigkeit (14. Lebensjahr) abhängig zu machen, widerspräche dem verfassungsrechtlich geschützten Recht der Ausübung der Religionsfreiheit im Rahmen der elterlichen Sorge, und stellt einen massiven Eingriff in die Religionsfreiheit und das Elternrecht dar (Hans Michael Heinig). Auch ist der Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht von Kindern an den Haaren herbei gezogen.

Das Selbstbestimmungsrecht der Kinder wird in vielerlei Hinsicht eingeschränkt. Eltern treffen eine Vielzahl von Entscheidungen, die die Kinder prägen: „Man muss sich also vor der Vorstellung hüten, es gäbe eine 18-jährige Neutralität in der Erziehung eines Kindes und nach seinem 18. Geburtstag entscheide das erwachsen gewordene Kind über sein Leben völlig freiwillig und unabhängig von dem, was zuvor passiert oder nicht passiert ist“, so Professor Dr. Michael Bongardt, Theologe, Philosoph und Leiter des Instituts für Vergleichende Ethik. Kann ein beschnittener Mann seine Religion wechseln? Die Kölner Richter schreiben in ihrer Urteilsbegründung, dass „der Körper des Kindes durch die Beschneidung dauerhaft und irreparabel verändert“ werde und diese Veränderung „dem Interesse des Kindes später selbstüber seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können zuwider“ laufe. Diese Schlussfolgerung ist nicht nachvollziehbar. Weshalb soll ein beschnittenes Kind später nicht selbst über seine Religionszugehörigkeit entscheiden können? Außerdem gibt es keine Religion, der ein Mann nicht beitreten könnte, wenn oder weil er beschnitten ist. Im Übrigen wurde auch Jesus Christus als Kind beschnitten – er hat später bekanntlich seine Religion gewechselt.

Welche Implikationen hätte ein Beschneidungsverbot?

Der Tübinger Strafrechtswissenschaftler Edward Schramm bringt es auf den Punkt: „Würde die Beschneidung ihrer Kinder […] strafrechtlich untersagt werden […], würde sie wegen ihres Glaubens rechtlich diskriminiert und in einem zentralen Moment ihrer Glaubensausübung kriminalisiert werden. Das (straf)rechtliche Beschneidungsverbot für jüdische oder muslimische Eltern eines Knaben würde dann sogar lauten: Euer Sohn darf nicht Jude, Euer Sohn darf nicht Moslem werden, solange er nicht volljährig ist.“ (Edward Schramm, Ehe und Familie im Strafrecht, Tübingen, 2011, S. 229). Ist die Beschneidung nun verboten?
Müssen wir als jüdische Eltern nun von einer Beschneidung unseres Sohnes absehen?
Nein. Das Urteil des Landgerichts Köln hat für andere Strafgerichte keine bindende Wirkung. Auch gibt es anderslautende Gerichtsentscheidungen und Meinungen in der juristischen Literatur, die eine Beschneidung erlauben und die Elterneinwilligung für ausreichend halten. Zudem hat das Urteil des Kölner Landgerichts den Tatbestand einer schweren Körperverletzung bei der fachgerechten Beschneidung ausdrücklich verneint. In einer Stellungnahme der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags heißt es daher: „Die danach verbleibende einfache Körperverletzung (§ 223 StGB) wird jedoch – falls nicht die Staatsanwaltschaft das besondere öffentliche Interesse bejaht – nur auf Strafantrag verfolgt (§ 230 Absatz 1 StGB). Es dürfte deshalb nicht zu befürchten sein, dass infolge des Urteils die Staatsanwaltschaften nunmehr breit angelegt von Amts wegen in muslimischen oder jüdischen Kreisen wegen vorgenommener Beschneidungen ermitteln müssten.“ Es gibt daher keinen Grund für Eltern, Mohalim oder Ärzte, bis zu einer bindenden Entscheidung durch den BGH oder das BVerfG auf eine Beschneidung zu verzichten. Der Jurist Holm Putzke, der die Diskussion um ein Beschneidungsverbot maßgeblich in Gang gebracht hat, sagt, es gäbe auch Israelis, die „trotz religiöser Zugehörigkeit zum Judentum von einer Säuglingsbeschneidung Abstand genommen haben und abwarten wollen, bis ihr Kind in der Lage ist, eigenverantwortlich darüber zu entscheiden. Wenn immer so getan wird, etwa vom Zentralrat der Juden, dass die religiöse Beschneidung im Judentum unverzichtbar und unumstritten sei, dann handelt es sich dabei nur um die halbe Wahrheit.“ Das Judentum ist keine dogmatische Religion, natürlich gibt es Menschen, die manches anders sehen und machen, das liegt in deren Freiheit. Religionsfreiheit ist auch Freiheit von der Religion. Die Beschneidung ist jedoch ein unumstößliches Gebot im Judentum; eine Einzelmeinung ändert daran nichts. Es gibt auch antisemitische Juden, nichtsdestotrotz ist der Antisemitismus unumstritten eine Bedrohung für Juden. Muss eine moderne Gesellschaft die religiös motivierte Beschneidung tolerieren? Ja. „Unsere Gesellschaft ist in all ihrer Unterschiedlichkeit auf ein hohes Maß an Toleranz ihrer Mitglieder angewiesen. In einem strikt philosophischen Sinne heißt
6 Toleranz: Ich dulde etwas, was ich aus meiner eigenen Perspektive mit guten Gründen für falsch halte. Das heißt, auch Menschen, die den Ritus der Beschneidung für falsch oder rückständig halten, müssen sich fragen, ob ihre Gründe so schwerwiegend sind, dass sie es nicht dulden können, wenn andere Leute bei diesen Bräuchen bleiben. Niemand verlangt von jemandem, der Beschneidung nicht gut findet, seine Meinung zu ändern. Es geht nur um die Frage der Duldung“, so Professor Dr. Michael Bongardt, Theologe, Philosoph und Leiter des Instituts für Vergleichende Ethik. Man sollte nicht vergessen, dass in der Geschichte der Kampf gegen die Beschneidung eine Vorgehensweise war, um Juden und jüdische Bräuche zu unterdrücken, denn mit der Beschneidung wird ein grundlegendes Gebot des Judentums angegriffen, deren Verbot die Existenz des Judentums gefährdet und in Frage stellt.

 

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